Sport ist auch Krieg
Alle Jugoslawen waren einmal stolz auf Sloweniens Skifahrer, Kroatiens Basketballer, Bosniens Handballlegenden, Serbiens Fußballspieler, Montenegros Wasserballer oder die Weltklasseboxer aus dem Kosovo. In Sporthallen oder Fußballstadien war jahrzehntelang der Sport das Messinstrument gewesen, woran sich die Stimmung der gesamten Nation ablesen ließ. Doch in den 1990er Jahren war all das plötzlich vorbei. Jetzt brach das Instrument entzwei.
Von Beqë Cufaj
Ich erinnere mich nicht, wo genau ich am 13. Mai 1990 war. Aber was ich 26 Jahre später noch weiß, ist, dass ich im Frühjahr dieses Jahres Student war, tief beeindruckt von der Tatsache, dass ein neues Kapitel meines Lebens begonnen hatte. In einer neuen Welt voller Freude aber auch Trauer und Angst, dass die politische Situation im Kosovo und in ganz Jugoslawien sich grundlegend und bedrohlich verändert hatte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Kosovo nicht nur eine der am stärksten zerstörten Regionen, sondern auch die rückständigste des damals neuen jugoslawischen Staats. Er bestand aus den sechs Republiken Serbien, Montenegro, Kroatien, Bosnien, Mazedonien, Slowenien sowie zwei autonomen Provinzen, neben dem Kosovo die Vojvodina. 22 Millionen Menschen bevölkerten den Staat, Albaner bildeten darin nicht nur die größte Minderheit, verteilt nicht allein auf das Kosovo im Süden Serbiens, sondern auch auf Teile Mazedoniens und Montenegro, eine Gruppe von rund drei Millionen Menschen.
Was die Albaner von ihren Nachbarn und Mitbürgern unterschied, war die Tatsache, dass sie nicht der slawischen Sprachgruppe angehören. Während sich also auch Slowenen mit Mazedoniern fast mühelos verständigen konnten, während der sprachliche Unterschied zwischen Kroaten und Serben ähnlich war, wie der zwischen Bayerisch und Berlinerisch, konnten die Albaner im sozialistischen Jugoslawien nicht behaupten, dass sie sich in diesem Vielvölkerstaat automatisch integriert fühlten. Im Gegenteil: Mit der höchsten Rate an Analphabeten im Land – etwa 97 Prozent der meist agrarisch geprägten Bevölkerung konnte weder lesen noch schreiben – und mit einer im Kern feindseligen Haltung gegenüber den Slawen, die ihrerseits sowieso eine Verachtung für die Albaner empfanden, hatten die Albaner während der jahrhundertlangen Besatzung durch das Osmanische Reich darin eingewilligt, in einer nicht geringen Anzahl zum Islam zu konvertieren, um ihre nationale Identität, ihre Sprache, bewahren zu dürfen. Die Voraussetzungen für ein Zusammenleben mit den Slawen waren also nicht ideal.
All dem ist auch die Tatsache hinzuzufügen, dass beinahe die Hälfte der Albaner außerhalb von Albanien lebte. Dort hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg den mit Mussolinis Faschisten und der Wehrmacht kollaborierenden König verjagt, um dem Lager der roten, kommunistischen Staaten beizutreten.
Hier beginnt die Geschichte einer Trennung, deren Folgen nicht nur die Albaner und ihre Nachbarn, sondern ganz Europa erst vor acht Jahren durch die Verkündung des aktuell jüngsten Staats der Weltgemeinschaft, des Kosovo, zu spüren bekamen.
Die Albaner im ehemaligen Jugoslawien waren eine weitgehend ungebildete Volksgruppe, mit traditionell streng patriarchalischen Auffassungen und Lebensweisen, teils muslimischen, teils katholischen Glaubens, mit Riten, die denen ihrer slawischen, orthodoxen Nachbarn kaum ähnelten. Jugoslawiens Kommunisten mit Marschall Tito an der Spitze diagnostizierten bei ihnen die Malaise, die eiligst behandelt werden sollte: Analphabetismus. Motiviert von der kommunistischen Ideologie und um einem gefährlichen Ausbruch von Nationalismus und Separatismus zuvorzukommen, wurde eine Kampagne zur “Bildung der Albaner” eingeleitet. Erst hunderte, später tausende Albaner erhielten die Zulassung zu Hochschulen und Universitäten des ehemaligen Jugoslawiens. Von Ljubljana über Zagreb, Sarajevo und insbesondere in Belgrad wurden Fachkräfte ausgebildet, die nach Prishtina, die Hauptstadt des Kosovo, zurückkehren sollten, sobald sie Lehrer, Ärzte, Armeeoffiziere, Schriftsteller, Sporttrainer geworden waren, um dort ihrerseits zur Ausbildung der breiten Masse beizutragen. Diese hatte durchaus Zeichen gegeben, dass sie äußerst daran interessiert war, das Zusammenleben mit den Slawen zu akzeptieren, solange sie in den Genuss einiger Rechte kamen. Es erwartete sie eine heimische kommunistische Verwaltung, dazu ausersehen, den Aufstieg eines Landes fortzuführen und sich in dessen multiethnischen Körper einzugliedern.
Auf diese Weise führte die Ausbildung der Fachkräfte an namhaften Universitäten dazu, dass zu Beginn der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erreicht wurde, woran wenige nach dem Zweiten Weltkrieg geglaubt hatten. In Prishtina wurde eine Universität gegründet, die eine Kernauswahl an Studienfächern anbot und ihre Tore tausenden albanischen Studierenden öffnete, die nunmehr nicht in andere Landesteile zu reisen brauchten, um sich zu bilden. Diese ganze Epoche fand ihr Ende, als Slobodan Milosevic der Autonomie der Provinz zu Leibe rückte.
Nach meinem Militärdienst in der jugoslawischen Volksarmee – übrigens damals die vierte Macht in Europa – sah ich mich wieder in meiner Heimatstadt, im Kosovo und in Prishtina, wo auf einmal alles anders war. Der neue serbische Präsident Slobodan Milosevic hatte die Autonomie des Kosovo aufgehoben. Andere Republiken, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Mazedonien, hatten ohne große Turbulenzen neue Mehrparteiensysteme eingeführt. In jeder föderativen Einheit wurden Kommunisten in Sozialisten oder Sozialdemokraten umgewandelt, der Rest der übrigen Parteien bestand aus Gruppierungen mit starken Dosen von Nationalismus und dem Suffix “demokratisch”. Mit anderen Worten: Sie machten sich bereit für die Zerstörung von Jugoslawien und die Unabhängigkeit der Republiken. All das begann mit dem Expansionsdrängen von Belgrad und Slobodan Milosevic an der Spitze der serbischen Kommunisten, die im Gegensatz zu den anderen eine einfache Formel mit einem schrecklich klingenden Echo gefunden hatten: die Kombination von Nationalismus mit Sozialismus.
Bald sahen sich Albaner, traumatisiert und unter Schock, von staatlichen Institutionen ausgeschlossen, von Universitäten, Bürokratie, Gesundheitswesen, Schulen, Sportarenen. Indes ging das große Schlachten los um “nationale” und “ethnische” Vorherrschaft zwischen den drei größten Gruppen, Serben, Kroaten und Slowenen. Das multiethnische Jugoslawien besaß acht föderative Einheiten, die der Welt als eine Nation präsentiert worden waren, und zwar in jedem Bereich vom Sport bis in die Außenpolitik.
Libertärer Autokrat
Dass dies gelang, war das Verdienst des libertären Autokraten Josip Broz Tito, der dieses Modell des Sozialismus 40 Jahre lang, wenn auch mit harter Hand, zusammenhielt, während es sich beeindruckend und deutlich von dem der Sowjets oder der Chinesen unterschied. Dazu gehörte die Erfindung der kommunalen und industriellen “Selbstverwaltung”, ein wenig Sozialismus nach außen, aber auch ein wenig Kapitalismus nach innen, das war die Formel für den sogenannten Dritten Weg. Mit anderen Worten: Etwas mit Amerika – aber auch etwas mit der Sowjetunion. Diese Politik machte Jugoslawien bis in die 1980er Jahre wirtschaftlich teils stärker als Länder wie Griechenland oder Portugal.
Aber 1990 hatte der Staat das Paradies aus Titos Zeiten längst verlassen, der Kalte Krieg war vorbei, die starken Wirtschaftsverbindungen, die Jugoslawien zwischen den Konkurrenten in Ost wie West unterhalten hatte, wurden brüchig. Aus wirtschaftlichen Engpässen entstanden Verteilungskämpfe, Neid und Eifersüchteleien zwischen den Großgruppen. Im Vielvölkerstaat hatte ein gesellschaftliches Beben eingesetzt. Überall war es zu spüren und zu sehen. Sozialisten wurden in “Serben” umgewandelt, mit einer Prise Sozialem und einer großen Dosis Nationalem.
Ähnlich ging die Verwandlung bei Kroaten und Slowenen vor sich. In Serbien fand der Apparatschik und Kommunist Milosevic breite Zustimmung, er galt als der Richtige, die gesamte Nation im Namen Serbiens zu führen. In grausiger Eile nutzte er seine Macht, das anzuzetteln, was niemand für möglich gehalten hätte: neue Kriege. Bruderkriege, Bürgerkriege im eigenen Staat.
All das geschah just nach dem Fall des Eisernen Vorhangs vielen anderen Ländern des ehemaligen Ostens. In Washington, London, Paris oder Bonn war man davon ausgegangen, dass es das blockfreie Jugoslawien viel leichter haben würde mit der Transformation als andere Staaten des Ostens. Ein bitterer Irrtum, ein naiver zudem. Denn das, was als die große, jugoslawische Nation bekannt war, fing an, sich selber nach innen aufzufressen. Zu erfahren war das etwa im und am Sport. Alle Jugoslawen waren einmal stolz auf Sloweniens Skifahrer, Kroatiens Basketballer, Bosniens Handballlegenden, Serbiens Fußballspieler, Montenegros Wasserballer oder die Weltklasseboxer aus dem Kosovo.
Jetzt wurde deutlich: Die Slowenen spielen für Slowenien, nicht für Jugoslawien! Serben kicken für Serbien, nicht für Jugoslawien! Bis zum Ende der 1980er Jahre trugen alle sportlichen Sieger stolz und sichtbar die Flagge von Jugoslawien – als Helden in ihren Heimatrepubliken und angesehene Sportler des gesamten Landes. Schleichend hörte das auf, der Nationalismus griff um sich.
Von 1945 bis 1990 waren Jugoslawiens Sportler teils weltbekannt, sie waren eine Art kleiner Weltmacht bei internationalen sportlichen Wettkämpfen. Sport war untrennbarer Teil des Lebens aller Jugendlichen, er bestimmte im Inneren des Landes den Alltag, und, besonders Fußball, die Wochenenden. Längst gab es dabei auch eine jeweils “nationale Liga” der einzelnen Landesteile – und da waren die alten Rivalitäten und Feindseligkeiten nun immer massiver zu erleben. Sport war der Ort, an dem offen erkennbar wurde: Alte Animositäten, der Kroaten gegen die Serben, oder umgekehrt, der Albaner gegen Serben und umgekehrt, sie brachen sich Bahn.
All dies waren späte Abfälle des Ersten wie des Zweiten Weltkriegs. Ungelöste Konflikte, unaufgeklärte Verbrechen, in Titos Regime dem sozialen Frieden zuliebe beschwiegen, kehrten nach dem Tod des Landesvaters wieder zurück, nicht länger bemäntelt durch die Ideologie der Brüderlichkeit und Einheit (“Bratsvo i Jedinstvo”) der Völker des ehemaligen Jugoslawiens. In Sporthallen oder Fußballstadien war während all der Jahrzehnte bereits der Sport das Messinstrument gewesen, woran sich die Stimmung der gesamten Nation ablesen ließ. Jetzt war das vorbei. Jetzt war das Instrument entzwei.
Vorboten eines neuen Windes
Während sich Polen, Tschechen, Slowaken, Bulgaren, Rumänen und andere Nationen einigermaßen friedlich in ihre neuen Mehrparteiensysteme hineinfanden, wehten in Jugoslawiens neu entstandenen Parteien die Vorboten eines neuen Windes, der zum Sturm werden sollte.
Das spürte man jeden Tag mehr. Man las es in den politischen Meldungen der Zeitungen, sah es am Abend im Fernsehen in Wohnzimmern – das emotionale, nationale Zersplittern des Jugoslawischen Staats war der normale Wahnsinn geworden. Sportarenen wurden zum Schauplatz, an dem große politische Frustrationen und Ambitionen entladen wurden, und die ehemaligen kommunistischen Kader nutzten das für sich. Es blieb in den dramatischen Konflikten zunächst, wie im Kalten Krieg, bei bloßen Zeichen und Stimmungen – bis zu dem Augenblick, in dem alles aus dem Ruder lief, und der richtige Kampf, der Heiße Krieg, losging.
Und der Kampf, ob wir es glauben wollen oder nicht, begann am 13. Mai 1990 in einem Fußballstadion. Erinnern wir zuerst an ein Ereignis, das genau ein Jahrzehnt davor geschah. Als am 4. Mai 1980 um kurz nach drei Uhr am Nachmittag verkündet wurde, dass Josip Broz Tito nicht mehr lebte, lagen sich im kroatischen Küstenort Split alle 22 Fußballspieler der gegnerischen Mannschaften trauernd in den Armen, hockten auf dem Rasen und weinten. Gespielt hatten Kroatiens berühmter Verein Hajduk und der serbische Traditionsklub Crvena Zvezda, also “Roter Stern”.
Genau zehn Jahre später, am 13. Mai 1990, stand in Zagreb, Kroatiens Hauptstadt, ein Match zwischen großen Rivalen auf dem Plan, eben dem serbischen “Roten Stern” und dem kroatischen Verein “Dinamo” aus Zagreb selbst. Dieses Spiel eskalierte und ging als eines der Ereignisse in die Geschichte ein, die den Beginn vom Ende Tito-Jugoslawiens markierten und symbolisierten. Serbische und kroatische Fans lieferten sich eine erbitterte Schlacht, die mit 79 verletzten Polizisten und 59 verletzten Zuschauern endete. Wie durch ein Wunder gab es neben den Dutzenden Verletzten und einigen Schwerverletzten keine Toten.
Fußtritt wurde zum Sinnbild
Das Spiel sollte an diesem Sonntag im Maksimir-Stadion stattfinden. Doch dazu kam es nie. Bereits im Vorfeld lieferten sich die BBB “Bad Blue Boys”, Fans von Dinamo, und der Zvezda-Fanklub Delije, “Helden”, wüste Schlägereien. Die zahlenmäßig weit unterlegene und nicht im Geringsten vorbereitete Polizei griff zwar ein, konnte aber (nach serbischer Version) oder wollte (nach kroatischer Deutung) die streitenden Fans zunächst nicht trennen und wurde stattdessen in die Auseinandersetzungen hineingezogen. Da die Polizisten mehrheitlich serbischer Nationalität waren, nutzten kroatische Politiker die Vorfälle rund um das Match später als Anlass zu ethnischen “Säuberungen” innerhalb des Polizeiapparats.
Gut 40 Minuten vor dem Spiel, als sich die Spieler gerade auf dem Feld aufwärmten, eskalierte die Situation. Tausende der tendenziell rechts gerichteten BBB-Fans stürmten das Fußballfeld und rannten in Richtung der Auswärtskurve der von Delije bereits zerlegten Südtribüne, die mit unzähligen serbischen Symbolen geschmückt gewesen war. Die Spieler von Roter Stern, angeführt von Kapitän Dragan “Piksi” Stojkovic, flüchteten in ihre Kabine. Einige Dinamo-Kicker blieben auf dem Feld. Zvonimir Boban, ein kroatischer Spieler, wurde zum “Helden”, als er in Kung-Fu-Manier einen Polizisten ansprang und sich dann schnell aus dem Staub machte. “Boban-e, Boban-e!”, hallte es von den Tribünen – das “e” am Namensende zeigt im Serbokroatischen den Vokativ an. Für kroatische Nationalisten wurde dieser Fußtritt zum Sinnbild für einen Aufstand gegen das verhasste Belgrader Regime. Kleine Ironie der Geschichte: Der von Boban attackierte Polizeibeamte war Kroate.
Für viele Fußballer und Bürger war dieser 13. Mai ein Fanal. Tagelang waren die Ereignisse im Maksimir-Stadion das größte Thema in Zeitungen, Kneipen, Büros und Fabriken. Differenziert wurde kaum. Für Kroaten lag die Schuld einzig bei den serbischen Fans, Serben machten allein die Bad
Blue Boys verantwortlich. Diese vor allem sahen in den Vorfällen des 13. Mai 1990 nicht nur einen Vorboten künftiger Ereignisse, sondern den eigentlichen Auftakt zum Krieg, so wie der kroatische Autor Hrvoje Prnjak, selbst aktives BBB-Mitglied. Er schrieb dazu: “Der 13. Mai 1990 bleibt in Erinnerung als Kulmination der mehrjährigen Spannungen, die nur ein Jahr später in den wahrhaft echten Krieg ausarteten.” Auch in diesem, dem folgenden, echten Heißen Krieg, waren die Fans der Vereine in den vordersten Reihen zu finden. Sie waren unter den ersten Freiwilligen, die sich für die “Verteidigung” ihres Landes und Volkes meldeten. Und oftmals zogen sie bewaffnet mit den Wappen und Symbolen ihrer Vereine an die Front.
Neben den Fangruppen BBB und Torcida von Hajduk Split auf der kroatischen Seite waren dies insbesondere die Delije auf der serbischen Seite. Anführer der Delije war der spätere Freischärler und berüchtigte Mafia-Boss Zeljko Raznatovic, genannt Arkan, der die verschiedenen Sub-Fangruppen von Roter Stern zu einer Einheit formierte. Viele der Delije schlossen sich zu Beginn des Krieges den “Arkan-Tigern” an, die im jugoslawischen Bürgerkrieg (1991-1995) wüteten. “Arkan”, der zum Kriminellen und Mörder gewordene gelernte Konditor, wurde im Januar 2000 in einem Belgrader Luxushotel erschossen. Seine Mörder wurden zwar zu insgesamt 120 Jahren Haft verurteilt, die Hintergründe der Tat sind bis heute jedoch nicht gänzlich aufgedeckt. Trotz der Aufregung stellten die Ereignisse des 13. Mai 1990 eigentlich keine große Überraschung dar. Schon davor hatte sich in Jugoslawien abgezeichnet, dass die Fans nicht nur des Sports wegen in die Stadien strömen.
Bühne für Propaganda
Spätestens in den 1980er Jahren, als die politischen und ethnischen Animositäten immer mehr zunahmen, orientierte sich das Verhalten vieler Eingefleischter zunehmend nationalistisch. Ganze Fangruppen mutierten zu nationalistisch-ethnischen Bewegungen. Ihnen dienten die Stadien als politische Bühne, sie wurden zum Ort der Durchsetzung ihrer politischen und nationalen Propaganda. All das, was in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens im Sozialismus tabu und nicht erlaubt war, das Absingen nationaler Lieder, das Tragen nationalistischer Symbole, förderten die Fans in den Arenen zutage. Ihr symbolisches Kommunizieren war von intensivem Hass gekennzeichnet. Sportliche Rivalen wurden nicht als solche, sondern als Angehörige einer feindlichen politischen, nationalen und religiösen Gruppe betrachtet.
In Belgrad wurden kroatische Sportler mit derben Flächen als “Ustascha”, also als Anhänger der kroatisch-faschistischen Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg beschimpft, in Zagreb und Split hagelte es Rufe wie “Cigani!”, “Zigeuner” oder “Ubij Srbina”, “Töte den Serben”. Daran hat sich übrigens bis heute nicht viel verändert.
In der Folge der Massenschlägerei vom Mai 1990 zogen sich Fußballverbände aus Kroatien, Slowenien und Kosovo mit sofortiger Wirkung aus den Nationalen Ligen zurück. Aus Protest, wie sie sagten, gegen die “serbische Herrschaft”. “Jugoslawien” sei mit Serbien an der Spitze nicht mehr ihr Land. Die Kapitulation des Vielvölkerstaats im Fußballstadion von Zagreb war der Anfang vom Ende Jugoslawiens. Was danach geschah, weiß heute die ganze Welt. Das große europäische Drama, mitten in der Euphorie nach dem Fall der Mauer, hatte viele Akte, viele Aufs und Abs.
Parallel zum jugoslawischen Zerfalls-Drama sah man den Optimismus für eine leuchtende und friedliche Zukunft, parallel zu den Kriegsbildern, die Europa erschütterten, die tanzenden, von der Sowjetunion befreiten Osteuropäer. In Europa hatte man geglaubt, dass sich der Schrecken, der sich zwischen 1941 und 1945 ereignet hatte, nicht wiederholen darf. Umso weniger war man vorbereitet auf einen vergleichbaren Schrecken in kleinerem Maßstab während eines ganzen Jahrzehnts, von 1991 bis 1999, in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo: Massengräber, Morde an Kindern und Greisen, der Genozid von Srebrenica, Flüchtlingskolonnen und Flugzeuge, deren Bomben Brücken und Häuser zerstörten.
Zerstörung eines Staats
Vor aller Augen geschah die Zerstörung eines multiethnischen Staats in Europa, eines Staats, an den Deutsche, Franzosen, Briten, Amerikaner oder Österreicher nur gute Erinnerungen hatten. Sie waren als Touristen an den schönen Küsten gewesen, sie hatten die Spitzensportler Jugoslawiens bewundert, Staatschefs hatten den autokratischen Landesvater Josip Broz Tito empfangen. Zehn Jahre bestialische Kriege zerstörten auch das Land, das die anderen Europäer kannten.
Nach dem Ende des Kosovokrieges, 1999, tauchten dann wieder die Nationen auf, als losgelöste Einzelteile eines einstmals Ganzen, als Gesellschaften, die massenhaftes Leid hinter sich hatten, Traumata in ihrem Inneren und eine ungewisse Zukunft vor sich.
Jetzt, erst jetzt, nach alledem, greift man in den Stadien nicht mehr zu den Erinnerungen an die Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg, um Nachbarn zu beschimpfen. Jetzt kann man sich auf die jüngeren Konflikte beziehen. Das Ende der Zerfallskriege brachte zwar das Ende direkter Gewalt mit sich, markierte aber erst den Beginn tief greifender, gesellschaftlicher, vor allem nationalistischer Transformation.
Am 12. Oktober 2005 trafen die Mannschaften von Serbien-Montenegro und Bosnien-Herzegowina im entscheidenden Match um die Qualifikation für die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland im Fußballstadion von „Roter Stern“ in Belgrad aufeinander. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina war zehn Jahre her. Und serbische Hooligans inszenierten sowohl im Stadion als auch auf den Straßen Belgrads ihre Reprise, einen Kleinkrieg gegen bosnische Anhänger. Elf Menschen wurden verletzt.
Mit Gesten und Worten drohte man den Opfern des Bosnienkrieges die Fortsetzung der Gräuel an. Als Höhepunkt entrollten serbische Hooligans ein übergroßes Transparent mit der Botschaft „Messer, Stacheldraht, Srebrenica“, eine bewusste, tiefe Beleidigung der Opfer des größten Massakers der jugoslawischen Kriege im Jahr 1995.
Anhand der Ereignisse im Fußball lässt sich, wie mittels der Daten eines Seismografen, die Geschichte des vergangenen Vierteljahrhunderts im ehemaligen Jugoslawien mitsamt seinem Zerfall von Staat und Gesellschaft rekonstruieren.
So auch vor anderthalb Jahren, am 10. Oktober 2014 in Belgrad. Beim Qualifikationsspiel für die Europameisterschaft zwischen Serbien und Albanien in Belgrad kam es zu Tätlichkeiten zwischen den Spielern. Der britische Schiedsrichter pfiff das Spiel kurz vor der Halbzeit ab – es war vorbei. Denn in der 42. Minute war über dem Stadion eine Flugdrohne mit einer Fahne aufgetaucht, die die Umrisse eines – fiktiven – Großalbanien zeigte.
Für die Aktion soll laut serbischen Medien der Bruder des albanischen Regierungschefs Edi Rama verantwortlich sein, der selbst eher auf Versöhnung aus ist. Sein Bruder habe die Drohne von der VIP-Loge aus fliegen lassen. Der beim SC Freiburg spielende Serbe Stefan Mitrovic konnte die Fahne vom kleinen Flugapparat abreißen, worauf albanische Spieler auf ihn losgingen. Aufgebrachte serbische Zuschauer stürmten das Spielfeld, um albanische Spieler zu attackieren, die sich in die Umkleideräume retten wollten. Nach einer Stunde Unterbrechung kehrten die serbischen Fußballer noch einmal kurz auf den Rasen zurück, um sich von ihren Fans zu verabschieden.
Serbischen Berichten zufolge sollen sich die albanischen Spieler geweigert haben, das Match fortzusetzen. Sie hätten als Bedingung verlangt, dass alle, überwiegend Belgrader Zuschauer, das Stadion verlassen. Denn auf Empfehlung der Europäischen Fußball-Union waren laut Albaniens Fußballverband gar keine albanischen Anhänger zu dem Länderspiel gereist. Im Gegenzug sollten dann auch im kommenden Jahr keine serbischen Fans zum Rückspiel in Tirana reisen. Darauf, so hieß es, hätten sich die nationalen Verbände geeinigt.
Noch immer sind ja die Beziehungen zwischen beiden Nationen belastet. Das Kosovo mit seiner großen albanischen Bevölkerung gehörte lange Zeit dem früheren Jugoslawien und später auch noch Serbien an, ehe 1999 der letzte der Zerfallskriege zur späteren Unabhängigkeit des Gebiets führte. Die Ausschreitungen im Belgrader Stadion vom Oktober 2014 gefährdeten zunächst den geplanten Besuch des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama in Serbien. Als erster albanischer Regierungschef sollte er am 22. Oktober 2014 nach Belgrad reisen. Ohne die Anrufe von Angela Merkel bei Edi Rama in Tirana und bei Ministerpräsident Aleksandar Vucic in Serbien, wäre der Besuch ins Wasser gefallen.
Helden oder Versager
Sind wir im Jahr 2016 klüger geworden? Ich bin mir nicht sicher. Noch immer wiederholen sich Geschichten und Geschichte, gespiegelt auch im Sport. Wenn im ehemaligen Jugoslawien in einem Sportstadion der Funke flog, der einen Krieg entzündete, vielleicht gelingt es uns dann, besser zu erkennen, auf welchen Sportarenen und Fußballplätzen, in welchen Trainingslagern sich heute etwas zusammenbraut.
Vielleicht achten wir generell mehr auf die allzu passionierten Sportler? “Venice Flying Services – Huffman Aviation”, so hieß die Flugschule, an der die nach Aussage ihrer Lehrer “durchschnittlich begabten Piloten” Mohammed Atta und Marwan Al-Shehhi, 33 und 23 Jahre alt, zu “sportlichen” Zwecken die Attacke übten, die als Elfter September bekannt wurde, den Angriff auf den westlichen Lebensstil, auf westliche Freiheit und Sicherheit. Es war eine Kriegserklärung, und ihre eskalierenden Folgen reichen bis in die Gegenwart.
Nein, es wäre nicht richtig und nicht fair, den Sport, schon gar nicht den Fußball als meine Lieblingssportart, als Unruhstifter zu brandmarken. Teamgeist, Fairness, Freude an Bewegung, es gibt so viel Gutes am Sport, auch und gerade an fairen Wettkämpfen. Aber er ist eben auch ein Seismograf der Gesellschaft, er kann Ehrgeiz, Rivalität, Betrug, Hass, Nationalismus, Fanatismus und Größenwahn ans Licht bringen und sogar befördern.
Auffällig ist, wie sehr unter Zeitgenossen die Sportler als “Helden” oder “Versager” ihrer Nationen gelten können. Wie im Kalten Krieg scheinen sie als Gradmesser der Größe ihrer Länder verwendet zu werden. Parallel zu diesem Phänomen beobachten wir, wie irrational und gefährlich Nationalismen und religiöse Fanatismen wachsen, und sehen Ströme von Flüchtenden auf Lehmwegen, an Grenzen, auf Schienen und Straßen, alles als Folge dieser Leid bringenden Entwicklung. Immer wenn ich an die Flüchtlinge denke, muss ich an meinem Schulfreund Ismet im Kosovo denken. Ismet, mit dem ich so oft Fußball gespielt habe.
Wir nannten ihn “Žungul”, weil er der jugoslawischen Legende aus dem Sportklub Hajduk in den späten 1970er Jahren so ähnlich sah, fast wie geklont. Es war so, als wenn man heute einen Freund hat, der Cristiano Ronaldo ähnlich wäre. Ismet war ein außergewöhnliches Sporttalent, aber sein Problem war: Er wurde am falschen Ort geboren, seine Kindheit fiel in die falsche Zeit. Er wäre vielleicht einer der Größten unserer Generation, Jahrgang 1970, geworden, wenn die Weltläufte nicht verstörend und zerstörerisch in unser Leben eingedrungen wären.
Ich werde nie das erste Wiedersehen mit Ismet in Deutschland vergessen. Es war im Jahr 1996, mein Leben drehte sich damals um den Alltag in einem Stuttgarter Studentenwohnheim und die Frage, ob aus mir ein Wissenschaftler oder ein Schriftsteller werden sollte. An einem dieser Tage sah ich plötzlich Ismet auf der Königstraße. Er war bei der Arbeit, als Florist! Das große Talent unserer Kindheit und frühen Jugend war nun Blumenhändler in Stuttgart, in Deutschland. Wir waren beide komplett überrascht. Fußball und Jugendträume waren nicht mehr unser Thema. Überall auf dem Balkan und in Europa gab es Flüchtlinge. Wir hatten Leib und Leben gerettet, Ismet einen Job als Flüchtling gefunden, das war die Formel für Glück. Auf meine Frage, ob er versucht hatte, sich vorzustellen, zu spielen, zum Beispiel für den VFB Stuttgart, antwortete er blitzschnell: “Jetzt ist es zu spät für alles.” Obwohl er nur 26 Jahre alt war. Heute, 20 Jahre später, bereue ich meine Frage.
Ich sah Ismet noch einige Monate lang immer wieder seine Blumen verkaufen, dann war er verschwunden. Wahrscheinlich ist er Vater geworden, hat einen anderen Job gefunden, kümmert sich jetzt um seine Kinder, die vielleicht irgendwo Fußball spielen. Tausende ehemaliger Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien in ganz Europa wurden Sportler, von Skandinavien über Deutschland bis nach Österreich und die Schweiz, inzwischen in der zweiten, bald dritten Generation. Kinder mit Eltern serbischer, kroatischer, slowenischer, albanischer Herkunft kicken für Deutschland oder Frankreich. Einige, deren Eltern im Westen leben, spielen inzwischen in deren ehemaliger Heimat, wo sie Land und Sprache erst lernen müssen.
Es hört sich verrückt an, aber viele Albaner sind stolz auf ihren Mit-Weltmeister in Brasilien, den Spieler Shkodran Mustafi, der 2014 die Farben Schwarz-Rot-Gold verteidigte. Als er das Kosovo besuchte, wurde er vom Präsidenten begrüßt, vom Premierminister und dem Minister für Sport – und von Tausenden Fans. In der Schweiz besteht die halbe Nationalmannschaft aus Albanern aus dem Kosovo oder Mazedonien. Bei der EM in Frankreich spielen Albaner gegen Albaniens Mannschaft – die einen als Schweizer. EinVater zweier Spieler aus dem Kosovo, Taulant und Granit Xhaka, musste unter dem Druck der Schweizer und der albanischen Öffentlichkeit entscheiden, welcher der Söhne für welche Mannschaft spielt. Nun, Granit wird für die Schweiz kicken, Taulant für Albanien spielen. Der Beste soll gewinnen! Fairness und Talent sollen die Sieger sein.
Vielleicht ist es die größte Ironie jener Geschichte, in der Sport von Nationalisten missbraucht und entstellt wurde, wie der Sport im Exil wieder zu sich finden kann. In der Diaspora, auf den Umwegen über die Flucht, kann eine neue Mischung der Emotionen entstehen: Wir sind gern bei den anderen und auch gern für uns, wir sind mit den anderen, und zugleich ganz bei uns. Das wäre ein gutes Gelände für die Zukunft des Sports.
Globales Spiel – Sport, Kultur, Entwicklung und Außenpolitik / EUNIC, … (Hg.). – Göttingen: Steidl, 2016. (Kulturreport, EUNIC-Jahrbuch)
erscheint in Kürze
Beqë Cufaj, Jahrgang 1970, ist ein kosovo-albanischer Schriftsteller, der mit seiner Familie in Stuttgart lebt. Er hat Sprach- und Literaturwissenschaft in Prishtina studiert, schreibt heute für diverse Zeitungen auf dem Balkan und in Westeuropa, darunter die “Frankfurter Allgemeine Zeitung”, die “Neue Zürcher Zeitung” und “Courrier International”, und hat mehrere Bände mit Essays und Prosa veröffentlicht. Im Zsolnay-Verlag erschien 2000 “Kosova – Rückkehr in ein verwüstetes Land”. 2005 folgte der Roman “Der Glanz der Fremde”. Zuletzt wurde von ihm der Roman “projekt@party” im Secession Verlag veröffentlicht.
